Abstract
Vor dem Hintergrund meiner Ausführung der kritischen Sonderwegsthese, dargelegt anhand einiger richtungsweisenden historiographischen Arbeiten, die die politische Entwicklung Deutschlands als defizitär entlarven, wurde die im Doktor Faustus aufgezeigte Desorientierung der Kulturelite, die sie für die Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten anfällig macht, verständlich. Diese These hat in einer Reihe von Motiven und Figuren in Thomas Manns Roman Niederschlag gefunden wie ich mittels meiner Explikationen der Musik, des Charakters Adrian Leverkühns, Luthers, des Winfried-Bundes, der Münchener Gesellschaft und des Humanisten Zeitblom beleuchtet habe.
Das Motiv der Musik diente Mann auf Grund des Aspektes, dass diese, wie ich unterstrichen habe, als spezifischer Ausdruck deutscher Innerlichkeit zu bewerten ist, dem Roman als Paradigma, um die Verhältnisse auf gesellschaftlicher Ebene darzustellen. Mittels meiner Analyse ist ersichtlich geworden, dass das im Doktor Faustus aufgezeigte Schicksal der Musik sich auf das Ende der liberalen Epoche, die in den Faschismus mündet, übertragen lässt. Ich habe dargelegt, dass die Musik als Allegorie der deutschen Mentalitätsgeschichte zu exemplifizieren ist, da sowohl die tradierten Kunstkonzeptionen als auch das Deutungsmuster der bürgerlichen Intelligenz sich nicht mehr mit der Realität bürgerlicher Praxis vereinbaren lassen, da diese im Verfall begriffen sind. Adrians Konzept der vollkommenen Durchorganisation weist, indem er das Archaische mit dem Revolutionären verbinden will und versucht, das Unthematische aus seiner Komposition zu eliminieren, auf die totalitären Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft voraus. Meine Arbeit hat ergeben, dass dem Tonsetzer der Durchbruch nicht gelingt, jedoch auf Grund seiner Selbstkritik, den Umschlag der Ästhetik in die Barbarei bewirkt zu haben, ein Hoffnungsschimmer besteht, der sich in der Kantate abzeichnet.
Die Lebensbeschreibung der überindividuellen Figur Adrian Leverkühn, aus der Analogien zu Nietzsches Werdegang hervorgegangen sind, diente dazu, den Niedergang der epochalen Tendenzen allegorisch darzustellen. Ich habe verdeutlicht, dass Leverkühns am eigenen Leib erfahrene Sterilität als Krise des Individualismus gewertet werden kann, die allegorisch für die Niedergangstendenzen des bürgerlichen Liberalismus steht. Da dem Tonsetzer die menschliche Mitte fehlt, gibt er sich dem von Nietzsche propagierten dionysischen Zustand hin, um den musikalischen Durchbruch zu erzielen. Dieser Mangel einer ausgleichenden Instanz zwischen Geist und Leben basiert auf dessen Philosophie, die das Leben gegen den Geist verteidigt und vorgibt, dass die Kunst sich nicht mit der Moral vereinbaren lässt. Da auf dem Boden des Humanismus keine Kunst mehr entstehen kann, muss sich Leverkühn den dämonischen Mächten verschreiben. Hier lässt sich wieder das Bildungsbürgertum zum Vergleich heranziehen, das seine neuhumanistischen Ideale zugunsten einer Verherrlichung des instinktiven Lebens aufgibt, da sein Bildungskonzept in Auflösung begriffen ist. Meine Analyse hat ergeben, dass Adrians Schuld bei seinem politikfernen Ästhetizismus und seiner Verantwortungslosigkeit gegenüber der Gesellschaft zu suchen ist.
Die durch die Reformation hervorgerufene Synthese aus protestantischer Religiosität und Aufklärungsbewegung, bedingt durch die religiöse Säkularisierung, evoziert den apolitischen Rückzug der Deutschen. Wie das Deutungsmuster des Bildungsbürgertums ist auch der Pietismus, der ebenfalls die Zweckfreiheit ins Zentrum seiner Betrachtungen stellt, auf Grund der kritischen Einwände der materialistischen Gesellschaft, die die religiösen Dogmen als unzeitgemäß entlarvt, im Verfall begriffen. Es erfolgt eine Ablösung des Subjektivismus durch die konservative Tradition, die sich, wie ich anhand der Theologiegeschichte aufgezeigt habe, auf die gesellschaftliche Ebene übertragen lässt, da sowohl das Bildungsbürgertum als auch die religiösen Institutionen, bedingt durch das Verlangen ihre Geltungskraft zu sichern, anfällig für autoritäre Lösungen werden.
Dem Gespräch des Winfried-Bundes, der dem Roman als Element dient, um dem Leser ein Exempel für die deutsche Jugendbewegung zu liefern, konnte die Sehnsucht der Theologie-Studenten nach neuen Ordnungskräften und neuen Ganzheitsordnungen entnommen werden, die sie für den Nationalsozialismus empfänglich macht. Durch ihren Rückzug in die Innerlichkeit, evoziert durch ihren Kulturpessimismus, führen sie paradoxerweise das Erbe ihrer Väter fort, indem sie am alten Kulturkonzept des Bildungsbürgertums festhalten, obwohl sie dieser Generation kritisch gegenüber eingestellt sind.
Mittels meiner Darstellung des Motivs der Münchener Gesellschaft, das im Roman dazu dient, dem Leser die Situation der Bildungselite vor Augen zu führen, ist deutlich geworden, dass Dekadenz, Immoralismus und die Anfälligkeit für dionysische Triebe auf Grund des Verlustes der Geltungskraft der Kulturschicht überhand nehmen.
Das Motiv des Kridwiß-Kreises, ist für den Roman von erheblicher Bedeutung, da es die Anfälligkeit der Bildungsschicht für vornationalsozialistische Tendenzen nach dem ersten Weltkrieg versinnbildlicht. Aus den Anschauungen der Diskussionsteilnehmer geht, wie explizit wurde, präfaschistisches Gedankengut, wie die Propagierung von Diktatur, Re-Barbarisierung und der Tötung „Lebensunfähiger“ hervor, das die bürgerlichen Traditionen, wie die Aufklärung und den Humanismus, verdrängt. Zu unterstreichen ist, dass diese antiliberalen Gesprächsinhalte ihre Entsprechung zu Spenglers Theorie vom Kulturtod und seiner Heraufbeschwörung des die humanistischen Skrupel hinter sich lassenden Cäsarentums finden.
Die Figur Serenus Zeitblom steht im Roman repräsentativ für die gesamte Bildungsschicht, die eine äußerste Willenspassivität aufweist. Wie mittels meiner Darlegung der passiven Opposition des Moralisten deutlich wurde, kann sich der Humanismus gegenüber den antiliberalen Tendenzen nicht behaupten, da er auf Grund der apolitischen Haltung der bürgerlichen Intelligenz, bedingt durch die Zweckfreiheit ihres Kulturbegriffs, der vor der wachsenden Bedrohung ständiger Hochkonjunktur keinen Bestand hat, zum Scheitern verurteilt ist.