Abstract
Zusammenfassung Der Heimatbegriff in Jenny Erpenbecks Heimsuchung (2008) Die vorliegende Arbeit ist eine Analyse und hermeneutisch orientierte Interpretation von Jenny Erpenbecks Roman Heimsuchung (2008), hauptsächlich aus einer Heimatperspektive. In der Einleitung meiner Arbeit stelle ich erst die Verfasserin, Jenny Erpenbeck, vor, die 1967 in eine Familie von Kulturpersönlichkeiten in Berlin hineingeboren wurde, und seit ihrem Debüt mit dem Roman Geschichte vom alten Kind im Jahre 1999 überwiegende positive Kritiken und mehrere Preise bekommen hat. Darauf folgt eine kurze Beschreibung von dem Roman Heimsuchung von 2008, einem multiperspektivischen Text über 12 verschiedene Personen und ihr Verhältnis zu dem gleichen Haus bei dem märkischen Meer durch etwa 100 Jahre deutsche Geschichte. An der Stelle präsentiere ich auch meine Fragestellung: Kann Jenny Erpenbecks Roman Heimsuchung als einen indirekten Kommentar zu dem Heimatdiskurs angesehen werden? Ich untersuche wie der Heimatbegriff in den Geschichten der verschiedenen Personen in unterschiedlichen Weisen zum Ausdruck kommt. In dieser Verbindung werden auch politische Verhältnisse, die Natur und die Zeit wichtige Dimensionen. Die Einleitung gibt auch einen Überblick über die wichtigsten Rezensionen und die wenigen wissenschaftlichen Beiträge zum Werk, die noch vorliegen. Schließlich folgt eine Darstellung der Theorie, auf der ich mich in meiner Arbeit stütze: 1) Andrea Bastians semantische Funktionsanalyse Der Heimat-Begriff (1995). Bastian teilt den Gesamtkomplex Heimat in drei zentrale Bedeutungskategorien ein: Eine räumliche, eine soziale und eine emotionale Kategorie. 2) Die kulturanthropologische Arbeit von Ina Maria Greverus, Auf der Suche nach Heimat (1979). Greverus definiert Heimat als notwendige Lebensqualität des Menschen, und Identität, Sicherheit und eigene Aktivität als die wichtigsten Bedeutungskomponenten des Heimatbegriffs. In meiner Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff in diesem Roman habe ich jedem von den zwölf Personen des Romans ein Kapitel gewidmet, in dem ich jede individuelle Geschichte analysiere, und die unterschiedlichen Heimatvorstellungen präsentiere. Die Bedeutungskategorien von Andrea Bastian sind ein zweckmäßiges Werkzeug in dieser Analyse, indem die meisten Figuren des Romans im räumlichen, sozialen und/oder emotionalen Bereich einen Heimatverlust erleiden. Der Effekt dieses Heimatverlusts auf die verschiedenen Heimatvorstellungen lässt sich gut mit den Bedeutungskomponenten von Ina Maria Greverus beschreiben. Zum Schluss setze ich Zeit und Raum in Verbindung mit dem Heimatbegriff, da diese zwei Dimensionen für den Heimatbegriff im Roman sehr zentral sind. Der Roman fängt in der Eiszeit mit einer Beschreibung der Schöpfung des Gebiets an, wo die Handlung des Romans spielt. Später folgen wir zwölf verschiedenen Personen durch ihre Erinnerungen an ihre Leben auf diesem Gebiet an dem märkischen Meer. Zentral hier ist die Vorstellung von der Flüchtigkeit des Einzelmenschen im Kontrast zu der Natur und die Ewigkeit. Im Zentrum der Handlung stehen das Grundstück und das Haus des Architekten, die als Verbindung der verschiedenen Figuren durch hundert Jahre deutsche Geschichte funktioniert: Weimarer Republik, zwei Weltkriege, die DDR und die Nachwendezeit, mit Hauptgewicht auf die beiden deutschen Diktaturstaaten. Die historischen Verhältnisse, die im Roman nur als Hintergrund funktionieren, werden durch die Fokalisierung, die Erpenbeck im Roman benutzt, in verschiedenen Perspektiven dargestellt. In dem wechselnden Blickwinkel kommt die Vorstellung von einer variablen Wahrheit zum Ausdruck, die bei Erpenbeck öfters auftaucht. Im Zentrum stehen also nicht die historischen Ereignisse jeder Zeit, sondern der Effekt dieser Ereignisse auf den Einzelmenschen, und die wechselnden individuellen Auffassungen von den verschiedenen Ereignissen/Orten/Zeiten. Zentral in den zwölf Lebensläufen, die im Roman fragmentarisch dargestellt werden, stehen die verschiedenen Heimatvorstellungen, unter anderem: • Heimat als Territorium und Erbe • Heimat als Identität • Heimat als Sicherheit • Heimat als sozialer Raum • Heimat als Sprache • Heimat als Vaterland • Die Kinderheimat • Heimat als Falle (durch zerstörende Sesshaftigkeit, politische Verhältnisse, Selbstbetrug oder fehlende Fähigkeit sich aus der Kindheit loszureißen) • Heimat als Paradies auf Erde • Die Erde als Heimat der Menschen im Kontrast zu Natur und Ewigkeit • Heimat im Himmel • Heimatverlust als Identitätsverlust • Heimat im Herzen/Mobilität Die Menschen im Roman suchen alle eine Heimat, ohne dass es einem von ihnen völlig gelingt, eine ideale Heimat zu etablieren, weil sie alle auf verschiedene Weise heimgesucht werden, von eigenen Erinnerungen oder inneren Dämonen, oder von äußeren historischen oder politischen Verhältnissen. Dass die Heimat auf irgendeine Weise eine große Rolle spielt, haben alle Romanfiguren gemeinsam. In den verschiedenen Einzelgeschichten kommen verschiedene Heimatvorstellungen zum Ausdruck. Erpenbecks Kommentar zu dem Heimatdiskurs besteht unter anderem darin, dass Sesshaftigkeit als den negativen Gegenpol zu Mobilität dargestellt wird. Eine ortsgebundene Heimat ist zwar für die Identitätsentwicklung eines Menschen wichtig, die Heimat muss aber ein Teil der Identität werden, als eine Art innere Heimat, die man immer bei sich trägt. Dann kann man sich von jeder physischen Heimat losreißen, und sich überall in der Welt eine Heimat bauen, wenn die politischen/historischen Verhältnisse die Sicherheit der Heimat gefährden. Heimat wird eine dynamische Vorstellung im Inneren des Menschen, die immer weiter geändert und gebaut werden muss, wenn die Heimat nicht zur Falle werden soll.