Abstract
Zwei mythischen Figuren hat Christa Wolf ihre schriftstellerische Aufmerksamkeit (bislang) in besonderem Maße gewidmet: Kassandra, der troischen Königstochter und Seherin, und Medea, der zauberkundigen Heilerin aus Kolchis. Innerhalb der Erzählung "Kassandra" (1983) und des Romans "Medea. Stimmen" (1996) findet eine Auseinandersetzung sowohl mit den augenscheinlich althergebrachten mythologischen Stoffen, als auch mit der Gegenwart der Autorin selbst statt, denn durch den Filter des Mythos wird der Fokus auch auf die Ereignisse des Kalten Krieges und der Nachwendezeit gelenkt – wenngleich dies nicht der einzige Interpretationsansatz bleiben sollte. Für die Schnittstelle von Reflexion, Rezeption und (Re-)Produktion, die diese beiden Werke bilden, sind die Faktoren Gedächtnis und Erinnerung von besonderer Bedeutung. Die intensive Beschäftigung mit den beiden Figuren ließ Christa Wolf erkennen, von welch unstatischem Charakter kulturelle Erinnerungen sind, zu denen Mythen zweifellos zählen. Denn nicht nur Medeas Identität ließ sich zurückführen auf eine gänzlich anders geartete als die, mit der wir sie heute im Allgemeinen verbinden – bevor sie zur Mörderin ihrer Kinder (gemacht) wurde, galt sie als durchaus positiv konnotierte Göttin und Heilerin –; auch die Sehergabe der Kassandra ließ sich einst anders erklären als durch Apoll, der ihr die Fähigkeit der Prophetie als Zeichen seiner Liebe verliehen haben soll, ehe er sie – zurückgewiesen und darum auf Rache aus – entkräftete. Diese Veränderungen im öffentlichen Bewusstsein stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Paradigmenwechsel von matrilinearen Gesellschaftsstrukturen zum Patriarchat. Wolf thematisiert dies in ihren beiden Büchern sowohl explizit, als auch implizit durch die darin enthaltenen und entfalteten Geschlechterkonflikte. Die Veränderung individueller, kollektiver, kommunikativer und kultureller Gedächtnisse und ihrer Erinnerungen spielt aber nicht nur innerhalb der entsprechenden Wolf’schen Werke eine eminente Rolle, sondern auch über die Textgrenzen hinaus, was umso deutlicher wird, wenn man sich mit der Entstehung dieser Bücher, Wolfs Vorarbeit an ihnen und den Äußerungen der Autorin über sie befasst.
Mythen durchlaufen Wandlungsprozesse, die nicht direkt auf kultureller Ebene begründet sind, sondern tiefer wurzeln – in den Erinnerungen Einzelner, und denen zunächst kleinerer, bald auch größerer Gruppen. Die Stimmen solcher individuellen und kollektiven Erinnerungsträger lässt Christa Wolf in "Kassandra" und "Medea. Stimmen" zu Wort kommen. Dadurch wird – freilich stets auf hypothetisch-literarisierte Weise, doch auch in kulturhistorischem Hinblick – veranschaulicht, wie sich Verwandlungen an mythischen Figuren und den Stoffen, die sie umgeben, vollziehen können. Zum einen setzt sich individuelle Erinnerung, die meist sprachlich reflektiert und so vermittelbar, aber auch durch sprachliche Indoktrination manipulierbar wird, kommunikativ fort in die Gruppen der Zeitgenossen und bald auch in die der Nachgeborenen. Zum anderen wird das Gedächtnis des Einzelnen ebenso von außen, vor allem von der so genannten „Wir-Gruppe“ und durch Abgrenzung von anderen „Wir-Gruppen“ geprägt, was wiederum Identität stiftet. In "Kassandra" wird der Erinnerungsmonolog einer Einzelnen nachgezeichnet; in "Medea. Stimmen" sind es bereits sechs solcher Monologe, die zwar voneinander isoliert auftreten, aus der Perspektive des Lesers aber zu einer Art „memory talk“ werden – einer Erinnerungspolyphonie, die in der Summe ihrer Subjektivitäten „der Wahrheit“ schon recht nahe kommt.
Die Autorin bezog bei der Bearbeitung des Kassandra- und des Medea-Stoffes ihre literatur- und kulturgeschichtlichen Kenntnisse über die „mythologischen Evolutionen“ ihrer Heldinnen mit ein, brachte in ihnen aber auch die eigenen Gegenwarten zum Ausdruck, woran sie die Relevanz und Notwendigkeit der antiken Stoffe bis in die heutige Zeit hinein beweist. Christa Wolf hat die Gestalten der Kassandra und der Medea im ausgehenden 20. Jahrhundert auf differenzierte und kritische Weise reanimiert und an ihnen deutlich gemacht, dass der künstlerisch adaptierte Mythos eine der interessantesten Gedächtniserscheinungen darstellt, die – sofern der Betrachter es denn zulässt – Wiederholungen erkennbar werden lassen und die individuelle und kollektive Geschichte durchaus erhellen können.